
"Mein Kopf hat meinem Körper sehr, sehr weh getan. Die beiden streiten jetzt."
Der Ironman in Frankfurt aus Sicht von Carina
Am Freitagnachmittag ging es los: Wir luden Radel, Schwimmbrille, Radelschuhe, Neoprenanzug, Laufschuhe, Socken, Trinkflaschen, Wettkampfoutfit, Helm, Verpflegung, Handtücher, Triathlonuhr, Luftpumpe, Sonnenbrille, viel sonstiges Triathlonzeugs und meine kleine Reisetasche ins Auto und machten uns auf den Weg nach Dreieich bei Frankfurt, wo wir mit den anderen Triathleten und Supportern aus Flos Trainingsgruppe untergebracht waren. Dort richteten wir am Tag vorher noch alle Vorbereitungen für den großen Tag aus: Startunterlagen abholen, anmelden, Rad einchecken, Wechselzonen anschauen, die Messe besuchen, letzte Besorgungen machen, Wechselbeutel zusammenpacken und in den Wechselzonen abgeben und Schwimmstrecke anschauen.

Flo war aufgeregt, es war sein erster Langdistanztriathlon, auf den er sich nun jahrelang vorbereitet hatte. Dieses Ziel hatte er nun seit mehr als zwei Jahren ganz klar vor Augen gehabt und dafür unzählig viele Stunden in hartes Training investiert. Das sollte sich nun auszahlen. „Das greislige Training hab ich ja jetzt schon. Jetzt muss ich mir nur noch meinen Lohn und meine Medaille dafür abholen“, waren seine Worte noch ein paar Tage zuvor gewesen. Teilweise war er nicht ansprechbar und wenn etwas nicht ganz so funktionierte, wie es hätte sollen, schob er entweder sofort Panik oder verfluchte alles um sich herum stundenlang. Auf der anderen Seite witzelte und spaßte er mit seinen Trainingskollegen herum, dass sie sich morgen beim Marathon gegenseitig voll abzocken würden und dass die Profis schon sehen werden, wer sie letztendlich doch noch schnupfen wird. Aber an diese Sprüche war ein paar Stunden später nicht mehr zu denken.
Alles in allem klappte am Samstag alles ganz gut und wir gingen am Abend noch zum Italiener, wo sich alle, die morgen an den Start gingen (und wir Supporter eigentlich auch) nochmal richtig mit Nudeln vollessen konnten, um Energie zu tanken.

Die Nacht war kurz und am nächsten Tag klingelte der Wecker um 3:30 Uhr. Frühstück um 4:00 Uhr, Abfahrt mit dem Bus um 4:30 Uhr. Schon im Shuttlebus herrschte eine ganz spezielle Stimmung. Es war so früh am Morgen, jeder noch ein bisschen müde, aber innerlich doch total aufgewühlt, voller Gedanken und Unklarheiten: „Wie wird der Start verlaufen?“ „Was wird mit mir passieren?“ „Wie wird mein Körper reagieren?“ „Wird das schwimmen gut klappen? Und das Radfahren? Und das Laufen?“ „Werde ich überhaupt ins Ziel kommen?“ „Habe ich auch nichts vergessen?“ „Hoffentlich wird es am Nachmittag nicht zu heiß!“ - Ich konnte die Gedanken der Triathleten förmlich im Bus herumschwirren sehen. Niemand sprach besonders viel und es herrschte geradezu andächtige Stimmung: Jeder wusste, dass die nächsten Stunden sehr, sehr hart werden würden. Flo wusste das auch, aber wie sich später herausstellte, hatte er sich im Vorfeld in keinem Szenario ausmalen können, WIE hart diese Stunden wirklich werden würden.

Wir gelangen ohne Verzögerungen zum Langener Waldsee, wo um 6:30 Uhr der Startschuss zum schwimmen fallen sollte. Vorher mussten Flo und die anderen nochmal kurz in die Wechselzone: ein Umherirren von 3000 Athleten, jeder voll auf sich und die kommenden Stunden konzentriert; jeder in Gedanken, voller Hoffnungen und Ängste, jetzt geschäftig darauf bedacht, dass auch ja nichts vergessen wurde und dass alles da ist, wo es zum Wechsel dann auch auffindbar sein sollte.
Als Flo und ich uns kurz vorm Schwimmstart verabschiedeten, hatten wir beide Tränen in den Augen. Ich wusste, wie viel ihm dieser Tag und dieser Moment bedeuteten. Wir umarmten uns fest und ich wünschte ihm alles Gute; wir wussten beide, dass wir uns erst im Ziel wieder sehen würden, wenn Flo schon den Titel ´Ironman´ trägt. Die Moderatoren spielten gerade die Deutschlandhymne. Der Moment hat mich so bewegt, dass ich den ganzen Rolling Start lang des Schwimmens Tränen in den Augen hatte.

Es dauerte nicht lange, bis die ersten Profis das Schwimmen hinter sich gebracht hatten. Die Athleten liefen aus dem Wasser, zogen sich in einer Hektik den Neoprenanzug vom Körper, schlüpften schnell in die Radschuhe, packten ihr Rad und schon ging es weiter. Nach einer Stunde und zehn Minuten kam auch Flo aus dem Wasser, zog sich schnell um und dann sahen wir ihn auch schon auf sein Rad steigen und in das nächste Rennen düsen. Wir schickten unsere Triathleten auf die Radstrecke und versuchten noch, ein paar gute Fotos zu schießen, was sich als überhaupt nicht einfach herausstellte. Dann fuhren wir mit einem Shuttlebus in die Innenstadt, wo dann später der Marathon und der Zieleinlauf stattfanden. Jetzt hatten wir aber erst mal genug Zeit: Für die 180 Radkilometer mussten unsere Leute schon ein paar Stunden treten, bevor sie dann auf die Laufstrecke gehen konnten! Wir standen an der Strecke und feuerten die Radfahrer an, einer nach dem anderen flogen sie an uns vorbei. Voll ausgerüstet mit Helm und Sonnenbrille und mit 35 Kilometer pro Stunde an uns vorbeidüsend war es schwierig zu erkennen, wer zu uns gehörte. Online konnten wir immer live verfolgen, wer sich gerade wo befindet und so konnten wir gut managen, dass wir jeden an der Radstrecke einmal anfeuern konnten. Als Flo bei Kilometer 100 an uns vorbeikam, lächelte er und hielt den Daumen nach oben. Er sah super aus! Bis jetzt verlief anscheinend alles nach Plan! Kaum waren unsere Leute an uns vorbei, kamen schon wieder die Profis aus der zweiten Runde und beendeten somit das Radfahren. Es wurde also nicht langweilig.

Bald gingen wir dann in die Wechselzone und warteten auf das erste bekannte Gesicht, das bald vom Rad steigen und in Laufschuhen weitermachen würde. Währenddessen war ich ständig am Live-Tickern, weil mir so viele Freunde und Familienmitglieder schrieben: alle wollten wissen, wie es läuft; alle checkten Flos Zeiten online alle paar Minuten und so viele Leute saßen tatsächlich den ganzen Tag vorm Fernseher und verfolgten das Geschehen. Flo kam mit einer Radzeit von 5 Stunden und 23 Minuten in die Wechselzone und wenige Minuten später klatschte er mich ab lief locker an mir vorbei. Euphorisch, grinsend, fit! Ich war wirklich erstaunt, wie gut er noch aussah und machte mir überhaupt keine Sorgen um ihn. Von da an pendelten wir ständig an der Laufstrecke: Die Triathleten liefen immer am Main entlang, vier Runden. Wir gingen also immer über den Eisernen Steg und konnten unsere Athleten, die alle zufällig relativ gesammelt kamen, alle fünf Kilometer anfeuern.

Es war eine unglaubliche Stimmung. Ich war aufgeregt, gespannt, euphorisch. Ich freute mich so sehr, dass es gut lief und hatte jedes Mal, kurz bevor Flo vorbeikam, ein gespanntes Kribbeln im Bauch. Ständig war die Rede von Sebastian Kienle, der allem Anschein nach dabei war, einen Weltrekord aufzustellen. Als er in die nächste Runde lief, tobte das Publikum. Jetzt waren die meisten Triathleten auf der Laufstrecke. Als sie aus der Wechselzone kamen, konnte man beobachten, dass sie sich mit dem Laufen sehr schwer taten: Nach dem stundenlangen Radfahren mussten sich die Beine erst an die neue Bewegung gewöhnen. Die ersten Meter gingen die meisten Läufer also sehr langsam an, aber sie kamen alle irgendwie in den Laufstil hinein. Ich schrie und klatschte und feuerte die Leute an; es war jetzt mitten am Nachmittag. Die Sonne brannte herunter, als wollte sie es den Läufern absichtlich besonders schwer machen; die Moderatoren sagten schon den Gewinner des Ironman durch, aber das war für mich sehr zweitrangig.
Bei Kilometer 20 blieb Flo das erste Mal kurz bei mir stehen und man sah ihm an, dass der „gute Lauf“ vom Anfang versiegt war. Die 180 Radkilometer machten sich jetzt in seinen Beinen bemerkbar, es war unerträglich heiß und er hatte noch 22 Kilometer vor sich. Ich sprach ihm jedes Mal gut zu, feuerte ihn an, sagte ihm, dass er gerade dabei wäre, sich seinen großen Traum zu erfüllen. Auch den anderen Läufern sah man an, dass sie schon seit neun Stunden unterwegs waren. Ich blickte in schmerzverzerrte Gesichter, in verzweifelte Augen und auf blutige Füße. Kaum jemand konnte die Strecke durchgehend laufen. Die Triathleten quälten sich durch die Nachmittagshitze, die Sonne brannte immer noch herunter. Ein paar Zuschauer hatten sich eine Bank im Schatten aufgestellt. Ich traute mich nicht, hinzusetzen. Auch als ich mir ein kühles Eis kaufte, hatte ich ein schlechtes Gewissen und verschlang es möglichst schnell, damit mich möglichst wenige Leute auf der Strecke eisessend sehen würde.

Auch Flo wurde immer langsamer, ging abschnittsweise und blieb immer länger bei mir stehen. Er sah fix und fertig aus und am liebsten hätte ich gesagt: „Du machst dich kaputt! Hör auf! Halt diesen unerträglichen Schmerzen nicht stand!“ Stattdessen begleitete ich ihn ein paar hundert Meter und redete ihm ein, dass er weitermachen musste, dass das Ziel nicht mehr weit sei. Dass er es auch erreichen würde, wenn er jetzt nur noch ginge. Dass ihm den Titel Ironman nie mehr jemand nehmen könne und dass er ihn sich schon in ein paar Minuten holen würde. Dass er an den Zieleinlauf denken solle und daran, dass das so lange sein Traum gewesen sei. Während ich ihm das sagte, liefen ihm die Tränen übers Gesicht. Er konnte nicht mehr. Er wollte nicht mehr. Sein Körper sträubte sich so sehr. Er war körperlich und geistig am Ende und dazu kam das Bewusstsein, dass er es irgendwie, irgendwann ins Ziel schaffen würde. Ich hatte am ganzen Körper Gänsehaut, hätte ihm so gerne geholfen, hätte ihm die letzten fünf Kilometer so gerne abgenommen… ich wünschte, ich hätte ihm irgendwie helfen können. Aber wir wussten beide, dass er das alleine durchstehen musste und ich wusste ganz sicher, dass er es durchstehen würde. Ich schickte ihn auf seine letzten Kilometer und machte mich mit meiner Support-Crew auf den Weg zum Zieleinlauf.

Dort ergatterten wir einen guten Platz und sahen zu, wie ein Ironman nach dem anderen den roten Teppich entlang ins Ziel liefen, stolperten, gingen, humpelten oder fielen. Alle Finisher waren überglücklich. In den letzten Metern vor dem Ziel kamen die allerletzten Lebensgeister aus ihnen heraus, sie ließen sich feiern und genossen ihren Zieleinlauf. Dort war natürlich eine großartige Stimmung, der Moderator sagte jeden, der die Ziellinie überquerte, durch, die Musik dröhnte aus den Boxen und die Zuschauer schrien die Läufer an, jubelten und klatschten sie ab, sie beglückwünschten sie und fielen sich im Ziel in die Arme. Ich konnte mich auch nicht zurückhalten. Meine Stimmung und meine Spannung heizten sich noch mehr auf, ich war voller Adrenalin und wartete darauf, dass Flo jede Sekunde um die Ecke biegen würde und endlich, endlich seinen Zieleinlauf, von dem er schon seit zwei Jahren sprach, genießen konnte.

Und irgendwann kam er dann: Er lief den roten Teppich entlang, fix und fertig, aber überglücklich, erschöpft, mit Tränen in den Augen, überwältigt von der Situation, von der Stimmung, von seiner eigenen Leistung, von den vielen Zuschauern, die ihn alle bejubelten. „DU HAST ES GESCHAFFT!! DAS IST DEIN ZIELEINLAUF!!“ brüllte ich ihm überwältigt zu. Er blieb noch kurz bei uns stehen und drückte meine Eltern, die extra für diesen Moment aus Straubing nach Frankfurt gefahren sind, und mich und lief dann ins Ziel ein. ´Florian Czada – 11:09:47´ zeigte der Zielbogen an. In mir spielte alles verrückt.
Am Ziel musste ich dann noch zwei lange Stunden warten, bis ich meinem Ironman gratulieren konnte: Er musste sich übergeben und hatte im Sanitätszelt eine Infusion bekommen. Ich beobachtete Triathleten, die auf dem Zielbereich herauskamen: kaum einer von ihnen konnte richtig gehen, aber jeder von ihnen hatte ein riesiges Grinsen auf dem Gesicht. Teilweise saßen die Finisher im Rollstuhl oder wurden liegend transportiert. Aber offensichtlich war ihnen das alles egal – sie hatten die Ziellinie überquert und das war alles, was zählte. Irgendwann gegen 20:00 Uhr stand Flo dann endlich vor uns: Blass und irgendwie nicht ganz bei sich, aber mit einer fetten Medaille um den Hals und überglücklich. Ich gratulierte ihm überschwänglich, umarmte ihn, erzählte ihm, fragte ihn, aber viel mehr als „Ja, des war a harte Partie für mi.“ kam nicht aus ihm heraus. Er saß nur da und schaute Löcher in die Luft, als wäre er ganz überfordert von der Situation, als würde er sich so sehr auf sein Inneres konzentrieren, dass er die Außenwelt, den Zielbereich und seine vielen Glückwünsche überhaupt nicht wahrnimmt. „Mein Kopf hat meinem Körper gerade sehr, sehr weh getan. Die beiden streiten jetzt.“, erklärte er mir geistesabwesend.

Das war noch nicht das Ende des Tages. Wir mussten noch das Rad abholen und in der Wechselzone die Wechselbeutel mitnehmen. Wir mussten noch das Hotelshuttle finden und warten, bis es uns endlich dorthin bringen würde. Wir mussten noch alles in unser Zimmer in den zweiten Stock schleppen und duschen. Obwohl ich körperlich nicht viel leisten musste, war ich an diesem Abend trotzdem kaputt. Es war schon halb 12, als wir im Bett waren. Flo wollte nichts mehr essen, aber ich habe ihm noch ein paar Chips reingezwungen aus Angst, er würde mir in der Nacht wegsterben. Er war den ganzen Abend zu nichts mehr fähig, er konnte kaum aufstehen und sein Kopf war zu voll, um mir zuzuhören oder mir etwas zu sagen.

Am nächsten Tag ging es ihm tatsächlich schon wieder unerwartet gut, was er mir mit ein paar Kniebeugen bewies. Das hatte er wohl der Infusion zu verdanken. Wir packten vormittags unsere Sachen, plünderten das Frühstücksbuffet und machten uns auf den Nach-Hause-Weg.
Dieses Wochenende werde ich wohl nie vergessen. Der Ironman Frankfurt 2017 war einer der spannendsten, intensivsten, anstrengendsten, emotionalsten und schönsten Tage, die ich je erleben durfte.
Alle Ironman Teilnehmer und Finisher haben sich durch diesen Tag gekämpft, durch diese lange Strecke durchgebissen, haben nicht aufgegeben. Eine Teilnehmerin sagte uns am nächsten Tag, dass das das anstrengendste war, was sie in ihrem Leben je gemacht hatte. Die Geburt ihres Kindes wäre dagegen ein Witz gewesen. Ich habe vollsten Respekt vor allen Ironmen und für mich sind sie alle Helden. Jetzt weiß ich auch, dass der Iron Man nicht so heißt, weil die Triathleten eiserne Muskeln brauchen – sondern vor allem, weil sie einen eisernen Willen brauchen.
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